Er lächelte wie ein Lamm…

Ich fegte die Blätter zusammen. Ich wusste gar nicht, was denn daran auszusetzen war, wenn die Blätter einfach so auf dem Schotterweg liegen würden. Es war sogar sehr schön: manche in rot und manche in feuerrot… Der Herbst ist eben so. Man braucht ihn erst gar nicht weiter zu schildern. Aber diese Heiden wollen ja alles blitzblank haben.

Keinen einzigen Papierfetzen oder gar ein einziges Blatt ließen sie auf dem Boden liegen. Wir fegten nun schon einen ganzen Monat die Blätter zusammen. Bevor dieses herbstliche Schauspiel einsetzte, zupfte ich das Unkraut von Gräbern und Blumenbeeten aus. Eigentlich sollte ich sagen, wir zupften aus, denn wir waren zu viert, und wenn noch Manutschehr dazu kam, waren wir fünf. Die Herbstblätter beschrieb er als „Farbfetzen“. Ich glaube, er schrieb auch Gedichte. Er murmelte manchmal leise Gedichtverse vor sich hin. Anfangs konnte er nicht ungezwungen reden. Ein Unterton von Vorsicht oder vielleicht auch Scham schwebte in seinen Worten. Er schien sich ständig in einem Verhör zu fühlen.

Außer mir und Manutschehr gab es noch einen Ausländer. Er war ein Pole. Er kam aus einem Dorf. Mit Hilfe meines dürftigen Wortschatzes und der wenigen Worte, die er auf Deutsch stammelte, konnte ich verstehen, dass er vom Lande stammte. Er sprach von Äckern, Pferden, Schafen und von allem anderen, was in jedem Dorf vorkam. Jedes Mal, wenn er sich mir näherte, empfand ich es so, als steige der Dampf frischen Schafmistes über seine strohblonden, krausen Haare. Dieses Gefühl hielt bis zum letzten Tag unseres gemeinsamen Arbeitens an. Manutschehr mochte den Polen nicht besonders. Eigentlich rastete er erst richtig aus, als er erfuhr, dass dieser ein Pole sei. „Konterrevolutionär“ knurrte er: Kaum hatte er diesen Gedanken ausgesprochen, versuchte er, ihn mit anderen absurden Begriffen zu vertuschen, als bedauere er, ihn in meiner Gegenwart ausgesprochen zu haben. Es war an dem Tag, als die alte Frau nicht wie immer am Grab ihres Mannes erschien- oder war es vielleicht das eines anderen nahen Verwandten. Sie kam jeden Morgen, noch bevor wir unsere Arbeit um acht Uhr anfingen. Sorgfältig zupfte sie das Unkraut vom Blumenbeet des Grabes aus. Unkraut wächst ja nicht jeden Tag nach oder vielleicht doch, fragte ich mich. Ich schaute genauer hin. Manchmal kam es mir vor, als streiche sie über den Boden wie eine zärtliche Liebkosung, eine sanfte Berührung der Haare oder des Hinterns eines Pferdes. Auch andere kamen. Die Gräber ihrer toten pflegten sie gut. Manchmal legten sie auf Gräber, wo ihre Angehörigen bereits seit mehr als dreißig oder vierzig Jahren ruhten, Kränze nieder. Auch sie zupften das Unkraut aus und goss die Blumen, aber nicht täglich. Die alte Frau aber kam jeden Tag. Und mit welch einer Ruhe sie die Blumen goß. Als erster bemerkte Dieter ihre Anwesenheit. Als er vom Fehlen der Alten sprach, kam es uns allen vor, als vermissten wir etwas. Wir hatten uns ja alle an sie gewöhnt, an ihr „Guten Morgen“ vielleicht. Wir waren alle durch eine unausgesprochene Empfindung mies gelaunt, als ahnten wir, dass sie nie mehr käme. Uns sie kam auch nie wieder.

Ich weiß nicht, warum ich gerade an ihre kurzen, schneeweißen Haare dachte, als der kleine Schaufelbagger neben dem Grab, an dem sie jeden Tag die Blumen gegossen hatte, ihr Grab aushob, um sie für immer zu verschlingen. Ich dachte auch an ihre Hände, ihre weichen weißen Hände, die immer wie festgeklebt an dem Henkel der Gießkanne schienen. Genau wie die Hände meiner Mutter, die immer um den Griff des Wasserkruges festgeklammert waren, wenn sie aus dem Brunnen Wasser holte. Ihre Haare waren noch nicht so weiß geworden, dass sie Henna auf sie legen sollte. Nur einmal im Jahr suchte sie das Grab des Vaters auf, um für ihn das Totengebet aufzusagen. Vielleicht ging sie auch öfter, aber uns, mich und meine drei Schwestern, nahm sie nur einmal im Jahr mit auf den Friedhof. Sie kniete am Grab nieder, legte die Finger ihrer rechten, von unschönen Adern durchzogene Hand auf den breiten, vermoosten Grabstein und murmelte etwas vor sich hin. Dann hob sie einen Kieselstein vom Boden auf und klopfte damit ein paarmal an den Grabstein. Während wir mürrisch und stumm dastanden, befahl sie uns, das gleiche zu tun. Ich hatte Angst vor dem Friedhof. Ich hasste meinen Vater dafür, dass er uns durch seinen Tod dazu gezwungen hatte, an breiten, vermoosten Steinen rumzuhocken und Steine auseinander zu schlagen. Gram würgte mir den Hals, aber ich weinte nicht. Meine zwei kleineren Schwestern weinten, lautlos. Noch stundenlang war uns nicht zum Arbeiten zumute. Wir hockten an den Gräbern und starrten auf die schwarz-weißen Reihen der Marmorpflastersteine. Aus Angst vor einem Blickkontakt schauten wir zu den Platanen, die vom Wind ausgepeitscht wurden und somit das Schwarz der Raben betonten. Dann schauten wir auf den in Grau eingehüllten Himmel.

Nur Helmut arbeitete wie immer, ohne ein Wort mit jemandem zu wechseln. Anfangs dachte ich, dass er keine besonders gute Beziehung zu Ausländern hat. Später merkte ich, dass er sich auch mit Dieter nicht einließ. Er war halt so: kalt und stumm. Manutschehr meinte dazu: “ ein echter Deutscher“ Er verschwand auch manchmal. Später erfuhr ich, dass er eine einsame Ecke suchte, um fern den Blicken des Vorarbeiters sein Bier zu trinken. Der kaum zwanzigjährige Marik war an dem Tag besonders traurig. Ich meine den Polen. Ich weiss nicht, ob die Abwesenheit der Alten oder irgendwas anderes ihn so aufgewühlt hatte. Sobald der Vorarbeiter verschwand, setzte er sich an ein Grab und senkte seinen Kopf zum Boden hin. Ich glaube, er weinte auch. Es war nicht deutlich zu sehen, er wandte uns seinen Rücken zu, aber seine Schultern bebten. Vielleicht dachte er an seine Mutter oder an jemand anderes. Als ich Manutschehr auf ihn aufmerksam machte, sagte er: „Diesem Konterrevolutionär möge noch schlimmeres passieren!“. Dies sagte er, obwohl er es nicht offen aussprechen wollte, d.h. er wollte es nicht vor mir tun. Vielleicht aber sah er den Ausdruck des Erstaunens in meinen Augen und die grimmigen Furchen auf meiner Stirn, als er versuchte seine Worte irgendwie zu rechtfertigen. Es war aber zwecklos. Ich hatte richtig hingehört. Manchmal, wenn wir nicht zusammenarbeiteten, wenn der Vorarbeiter uns in Gruppen von zwei oder drei Arbeitern in verschiedenen Ecken des Friedhofes einsetzt, kam es vor, dass ich mit Marik zusammenkam. Er lächelte unentwegt. Ich weiß nicht, ob er über unsere Verständigungsprobleme lachte, oder von Natur aus so war. Aber selbst wenn man eine Sprache nicht versteht, kann man sie durch etwas anderes ersetzen. Zum Beispiel bewegt man die Hände, Füße, den Mund oder die anderen Gliedmaßen mehr als sonst, das Staubstummen- Spiel, welches man auch die internationale Sprache nennt. Und manche lächeln anstelle dieses Taubstummen- Spiels. Aber sein Lächeln hatte nicht zum Ziel gehabt, seine Verständigungsprobleme wettzumachen. Selbst seine Augen lachten, dies war nicht mehr gekünstelt. Die Lippen kann man künstlich zu einem Lächeln formen, der Blick aber lügt nicht. Oder doch?

Manchmal dachte ich, dass Marik ein Lamm sei. Vielleicht brachten mich seine gelben, krausen Haare darauf. Ein-, zweimal, als sein Lammblick mich an meine Kindheit erinnerte, hätte ich fast über seine Haare gestrichen. Genau wie damals, als meine Mutter vom Brunnen Wasser holte, und ich über das Fell der Schafe strich oder daran zog, um ihr Schmerzensgebrüll zu hören. Ich wollte es, tat es aber nicht. Ich wollte nicht, dass das Lächeln von seinem Gesicht wich, ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass dieses Lamm ein Konterrevolutionär sein sollte. Manutschehr hatte es gesagt. Vielleicht wollte er sagen:“ Er wollte zum Paradies des Kapitalismus. Und nun ist er in diesem Paradies und muss auf dem Friedhof schuften.“ Er sagte es aber nicht, d.h. nicht an diesem Tag.

Das vom „kapitalistischen Paradies“ sagte er später. Als ich fragte: “ Warum bist du denn nicht zu deinem Paradies gegangen“? Ich glaube, dass ich sogar gefragt habe:“ Warum malochst du denn hier“? Er sagte nichts, d.h. er sagte einiges, was überhaupt nichts mit meinen Fragen zu tun hatte. Vom Malochen konnte eigentlich nicht die Rede sein, ich wollte nur seine eigenen Worte benutzen. Unsere Arbeit war nicht sehr hart. Wir hatten auch von den Deutschen gelernt, uns vor der Arbeit zu drücken. Gleich am ersten Tag hatte uns Dieter gesagt: Langsam, langsam! Und ich habe es Manutschehr zu verstehen gegeben. Auch wenn die Arbeit nicht so schwer ist oder man sich davor drücken kann, ist es doch sehr ärgerlich, dass man Zwangsarbeit verrichten muss, wenn man als Asylbewerber Sozialhilfe beziehen will, selbst wenn man ein Lehrer oder Ingenieur war.

Auf meine Frage antwortete er so, als wolle er die bundesdeutsche Gesellschaft verteidigen. Er wusste selbst, dass es nicht so war, er wollte nur meiner Frage ausweichen. Einige Wochen später sagte er mir, dass er in der DDR bleiben wollte. Man hatte ihn aber nicht aufgenommen. Er sagte es an einem Tag, als Dieter sehr gut gelaunt war und schallend lachte. Mit seinen neunzehn Jahren. Als er erfuhr, dass ich Englisch kann, wollte er unbedingt Englisch lernen. Wenn er seinen Satz gelernt hatte, freute er sich mit seiner ungestümen Gestalt wie ein Kind. Er schmiss den Besen oder die Schaufel in die Luft, wandte sich mit seinem Pferdegesicht zum Himmel und stieß, wie die Indianer, merkwürdige Laute aus. Viel konnte ich ihm auch nicht beibringen. Ich war erst ein Jahr in Deutschland und konnte ihm nur so viel Englisch erklären, wie es mein dürftiges Deutsch erlaubte. Laut lachend sagte er: “ Er war allein.“ Ich fragte ihn:“ Wer war allein?“ Er sagte: “ Mein Vater. Als er starb, war er allein.“ Ich dachte, dass er völlig durchgedreht sei. Kann man denn über den Tod lachen?

Ich sagte:“ Warum bist du so fröhlich?“ Er antwortete:“ Die Nachbarn haben die Polizei gerufen. Durch den Gestank aus dem Zimmer haben sie geahnt, dass er gestorben sein muss.“ Er lachte die ganze Zeit. Als er mehr über sich erzählte, erfuhr ich, dass er zwei Jahre alt gewesen war, als seine Mutter die Familie für immer verließ. Er erfuhr auch nie, wo sie hingegangen und was ihr zugestoßen war. Er sagte:“ Ich glaube, sie ist tot.“ Sein Vater schickte ihn in ein Waisenhaus. Nicht, dass ich alle seine Worte verstand, manche Stellen habe ich erahnt. Er schob seinem Vater die Schuld zu und freute sich nun so sehr, als sei sein Feind gestorben. Als er vom Heim sprach, schwebte Trauer in seinen Augen. Ich glaubte, eine kindliche Unschuld unter seiner Haut heraufkommen zu spüren. Ich weiß nicht, ob es die Geschichte über den Tod von Dieters Vater oder auch seine Erlebnisse vom Vortag waren, die Manutschehr dazu bewegten, uns zu erzählen, dass er in der DDR bleiben wollte. Er fegte die Blätter auf dem Schotterweg zusammen. Er war mit Helmut in einer Kolonne. Wie immer war dieser verschwunden. Eine Frau kam auf ihn zu. Sie wollte auf einem Grab einen Kranz niederlegen oder vielleicht das Grab pflegen. Sie hatte ihre Handtasche aufgemacht und wollte Manutschehr fünf Mark geben. Zuerst war Manutschehr völlig verblüfft. Die Frau hatte gesagt: “ Kauf dir eine Packung Zigaretten!“ Als er zum ersten Mal die Geschichte erzählte, sagte er:“ Ich hab das Geld nicht angenommen. Das hätte noch gefehlt, dass wir Almosen annehmen!“ Aber später, als wir uns näher kamen, erzählte er, dass er sich zuerst geärgert hatte und fühlte, wie seine Wangen glühten, nicht vor Wut oder etwas Ähnlichem, sondern vor Scham. Er habe sich dann umgeschaut und schnell nach der Münze gegriffen. Diese Passage erzählte er schon lächelnd. Auch ich lachte. Die Frau habe ihn gebeten, das Grab ihres Mannes zu pflegen. Er sagte aber selbst:“ Ich bin nie wieder in die Nähe dieses Grabes gegangen.“

Ich weiß nicht, ob es das Gefühl der Erniedrigung oder der Eindruck vom Tod von Dieters Vater waren, die seine Gedanken so verwirrt hatten, dass er erzählte: „Ich hatte vor, dort zu bleiben. Nicht einmal im Traum konnte ich mir vorstellen, dass sie mich zurückweisen. Ich hatte ihnen auf dem Flughafen gesagt, dass ich der Partei angehöre, aber sie haben nicht nur wieder meine ganze Handtasche aufgewühlt, sondern zerrten mich auch in eine Kabine und unterzogen mich einer gründlichen Leibesvisitation. „Selbst seinen Hemdkragen haben sie durchsucht, aber nicht „aufgerissen“. Dann wollten sie ihn wieder in die Türkei abschieben, sein Pass war gefälscht. Es gab einen anderen Ausweg. Sie nahmen fünfzig D-Mark und ließen ihn an der West-Berliner Grenze los. Als er von der Partei und dem Asylantrag gesprochen hatte, hatten sie so getan, als seine sie taub. Sehr wütend erzählte er dies später. Ich sah zum ersten Mal, dass er die Worte zornig aussprach, wenn er von drüben sprach. Ich dachte, dass vielleicht irgendeine Kontroverse zwischen ihm und seinen Genossen im Gange war, weil er so offen über solche Dinge redete. Ich hatte das Gefühl, dass er eine Phase intensiver, innerer Auseinandersetzungen durchmachte. Eines Tages zeigte er auf Marik und sagte: „Vielleicht ist er auch gar nicht schuld“? Ich sagte ihm: “ Niemand verläßt freiwillig den Ort, an dem er sich wohl fühlt. Wer möchte nicht in seiner Heimat leben?“ Ich sah in den nächsten Tagen, dass er immer öfter das Gespräch mit Marik suchte. Er wollte mehr über Polen erfahren. In diesen Tag kam meine Anerkennung als politischer Flüchtling, und ich durfte für immer die kleine Stadt Andernach mit ihrem Friedhof verlassen.

Ich verließ die Stadt und sah Manutschehr nie mehr. Ich weiß nicht, was ihm in den fünf Jahren widerfahren ist. Ich weiß auch nicht, was Marik ihm noch alles mit seiner notdürftigen Sprache erzählt hat. Eins kann ich aber vermuten: Marik dürfte Manutschehr mit seinem Lamm- Lächeln bezwungen haben.

Aus dem Erzählband „Verirrt“: IKW-Verlag 1992