Sadegh Hedayat wurde 1903 in der Familie eines hohen Beamten in Teheran geboren.[1] Er erhielt eine aristokratische Erziehung und „die traditionelle iranisch-islamische Bildung.“[2] Durch den Besuch der französischen Missionsschule St. Louis in Teheran (1925) erlernte er die französische Sprache.[3] 1926 wurde er mit einem Regierungsstipendium als Student nach Belgien geschickt. Nach acht Monaten ging er nach Frankreich, wo er bis 1930 studierte und dann ohne Abschluss nach Iran zurückkehrte.[4] In Frankreich lernte er die europäische Literatur direkt kennen.[5] Nach seiner Rückkehr aus Frankreich erschien sein erster Erzählband „Zende begur“ (Lebendig begraben) in Teheran (1930). Die gleichnamige Erzählung ist die Geschichte eines Menschen, der sich durch Opium das Leben zu nehmen versucht.[6] Diese Erzählung entstand in Frankreich, wo er 1928 zum ersten Mal einen Selbstmordversuch beging, aber gerettet wurde.[7] Die Todessehnsucht war Hedayat immer innewohnend, ein Thema, das in manchen seiner Erzählungen wie „se ghatre khun“ (Drei Tropfen Blut)[8] oder in seinem Meisterwerk „Die blinde Eule“ auftritt und in unterschiedlicher Weise seine Werke durchzieht, in denen die vollkommene Vernichtung der Persönlichkeit des Protagonisten beschrieben wird. Diese Sehnsucht führte so weit, dass er sich schließlich im Jahre 1951 in Paris das Leben nahm. Dies und sein Hass gegen die Umgebung, besonders gegen die „Radjale“ (Pöbel), der ihn in die Einsamkeit führte, und seine pessimistische Grundstimmung haben manche Interpreten veranlasst, nach parallelen Merkmale in Hedayats und Franz Kafkas Werken zu suchen. So schreibt Richard Flower beispielsweise: „Die Personen seiner Werke sind oft einsame und verfolgte Seelen wie jene von Kafka.[9] […] In vielen Bemerkungen sind parallele Elemente der Technik und der Problematik beider Autoren zu erkennen.“[10] Flower meint, sogar in der Sprache der beiden Autoren eine Ähnlichkeit zu erkennen: „Hedayats Persisch hat gewiss die subtile Einfachheit von Kafkas Deutsch und ist vortrefflich geeignet, die gleiche Situation eines Menschen ‚inmitten der Schöpfung’ darzustellen.“[11] Aus verschiedenen Gründen ist Flowers Exegese jedoch nicht zuzustimmen: 1. Hedayat ist in einem Land und in einer Epoche aufgewachsen, in der nur ein Hauch von Modernität, wie ihn der Anfang der Industrialisierung mit sich bringt, die Gesellschaft oberflächlich streifte. Zu Hedayats Zeit ist Persien ein Land, das von den Errungenschaften der Modernität, nämlich Säkularisierung und Freiheit des Denkens und des Wortes meilenweit entfernt ist. Unter diesen Bedingungen ist es kaum vorstellbar, dass ein iranischer „Intellektueller“ die Modernität wie ein europäischer Intellektueller wahrnehmen oder verinnerlichen kann. Kafka jedoch lebte zu einer Zeit, wo nicht nur nach Jahrhunderten „an die Stelle Gottes als Rechtfertigungsinstanz und letzte Referenz diskursiver Ableitungen das Subjekt tritt“[12], sondern die Durchsetzung der Kernidee des Modernisierungsprozesses, nämlich die Befreiung des Individuums, in Frage gestellt wird, was in Kafkas Werken von großem Gewicht ist und die Einsamkeit seiner Figuren erklärt. Iran stand zu jener Zeit am Anfang der Säkularisierung der Gesellschaft. Obwohl viele der iranischen Aufklärer die westlichen Modelle für eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme in ihrem Land hielten, blieben ihre weltanschaulichen Widersprüche bestehen. Im Konflikt zwischen Religion und Verweltlichung konnten sie sich nicht für die Säkularisierung entscheiden. Sie wollten nur die Industrialisierung und die Rechtsordnung des Westens übernehmen, ohne zu erkennen, dass beides untrennbar mit der Säkularisierung verbunden ist.[13] Diese Tendenz wurde besonders durch die neokolonialistische Politik verstärkt, welche den Hass und die Verweigerung westlicher Gedanken hervorrief. Obwohl Hedayat durch seinen vierjährigen Aufenthalt in Frankreich und durch seine eigenen Studien die Modernität erfuhr, lebte er trotzdem in einem Schwebezustand zwischen Modernität und Tradition. Er war, wie der Geist der Zeit es verlangte, auch ein Nationalist. Daher unternimmt er 1936 eine Reise nach Indien, um Mittelpersisch zu lernen. Er übersetzte danach einige Texte aus dem Mittelpersischen ins Neupersische und schrieb Bücher über die vorislamische persische Kultur und Geschichte[14], die seine Vorliebe für die persische Kultur kennzeichnen. Dies wird besonders in seinem Theaterstück „Maziyar“ (1933) deutlich, der Geschichte eines iranischen Nationalmärtyrers im Unabhängigkeitskampf gegen die arabischen Eroberer im achten Jahrhundert. Dort stellt Hedayat seinen Hass auf die Araber dar, die das persische Reich im siebten Jahrhundert zum Einsturz gebracht und das Land islamisiert hatten.[15] Sein Hass richtet sich auch gegen den Islam. Dies kommt besonders in seinem romanesken Werk „Tup-e Morwarid“ (Die Perlenkanone, 1947) zum Ausdruck. Darin macht er den Islam regelrecht lächerlich. Dieses Buch durfte nie offiziell erscheinen, und es zählt auch heute noch zur Untergrundliteratur. Diese Werke zeigen zusammen mit „afsane-ye afarinesch“ (Die Fabel von der Schöpfung, 1946), worin er die Erschaffung der Welt durch einen Gott als eine Fabel ironisch darstellt, zum einen seine atheistische Einstellung, zum anderen tragen sie chauvinistische Züge. Hedayat war aber andererseits auch ein Einzelgänger, der jeglicher Despotie, der Unterentwicklung der Gesellschaft, der Heuchelei der Geistlichen u. a. mit Sozialkritik entgegentrat. Er stand für die Modernisierung des Landes. Wenn man also die sozial-politische Lage zu Kafkas Zeiten und seine Konflikte mit denen Hedayats und seiner Zeit vergleicht, zeigt sich, dass manche scheinbaren Ähnlichkeiten aus einem jeweils anderen Hintergrund entstanden sind. Ein Beispiel dafür ist ihre Einsamkeit und Entfremdung von der Umwelt. Bei Kafka ist, wie ich in der vorliegenden Arbeit erörtert habe, die Einsamkeit aus dem Verfall des Individuums zu verstehen, wobei er sein Eigen, sein freies Selbst sucht. Hedayats Einsamkeit ist aus der Enttäuschung über seine Landsleute und seine dichterische Arbeit, die „keine Leser hat“,[16] zu begreifen. Während Kafka nach seinem eigenen Ich suchte, bzw. sein Selbst frei wünschte, versuchte Hedayat sein Ich zu vernichten[17] oder es zu erniedrigen[18], weil er keinen Individuationsprozess wie ein moderner Europäer erlebt hatte, und deshalb keine individuelle Existenz besaß. 2. Was Flower als die gleiche „subtile Einfachheit“ in beiden Sprachen (Hedayats Persisch und Kafkas Deutsch) entdeckt, beweist nur die Unaufmerksamkeit Flowers, da er die Entwicklung der modernen persischen Literatur und ihrer Sprache außer Acht lässt. Wie eingangs erwähnt, sollte man die „Einfachheit“ in Hedayats Werken mit dem Versuch seiner Vorläufer in Verbindung setzen, die Literatursprache zu vereinfachen. Sprachliche und stilistische Parallelitäten gibt es in den Werken Hedayats und seiner Vorgänger wie Dehkhoda und dem Begründer der modernen persischen Erzählung, Djamalzade. Diese Parallelitäten sind nicht nur in der „Einfachheit“ der Sprache, sondern auch in der Satzkonstruktion und Textgestaltung vorhanden. Er hat ihren Stil nur weiterentwickelt. Außerdem ist Hedayats Sprache nicht so „subtil“ wie Kafkas. Es gibt grammatische Fehler in seinen Werken, sogar in seinem Meisterwerk „Die blinde Eule“[19], welche manche Interpreten auf den Einfluss des Französischen auf Hedayat zurückführen[20], weil er europäische Literatur auf Französisch las und ins Persische übersetzte. Auch Kafkas Werke hatte er in französischer Übersetzung gelesen und einige von ihnen ins Persische übersetzt.[21] Er konnte also auch aus diesem Grund nicht von Kafkas Sprache beeinflusst worden sein. 3. Wenn man die Erzählstruktur und die Entwicklung der Handlung und die Rahmenkonstruktion der Werke Kafkas mit Hedayats Werken vergleicht, findet man relevante Unterschiede. Kafkas Werke sind von der unaufhörlichen Wanderung seiner Figuren geprägt, wodurch sich die Handlung der Geschichte entwickelt.[22] Er schickt seine Figuren, unwillentlich wie Josef K. oder willentlich wie K., auf eine labyrinthische Irrfahrt. Aber sie versuchen sich aus dem Labyrinth zu befreien. Josef K. versucht seine „Unschuld“ zu beweisen, K. versucht das Schloss zu erreichen, Gregor Samsa versucht sich von der Tiergestalt zu befreien und mit den anderen eine menschliche Beziehung einzugehen usw. Die Rahmenkonstruktion in Kafkas Werken wird durch diese Befreiungsversuche aufgebaut, wodurch die Handlung der Geschichten ihre Tragik erhält. Hedayats bedeutsame Geschichten, die oft mit Kafkas Werken parallelisiert werden, ereignen sich dagegen in einem geschlossenen Raum, was sich aus seinem Leben in einem totalitären System erklärt. Die Figuren handeln wie Gefangene, die eher in sich selbst gefangen sind. In der Erzählung „Lebendig begraben“ ist die ganze Welt der Hauptfigur ein Zimmer, in dem sie sich das Leben zu nehmen versucht. In „Drei Tropfen Blut“ ist der Protagonist (Mirza–Ahmad Khan) in einem Irrenhaus gefangen. Der Ich-Erzähler des Romans „Die blinde Eule“ wohnt in einem Zimmer, das „über den Ruinen“ errichtet wurde und dessen Wände „wie die Mauern eines Grabmals“ [23] sind. Seine Außenwelt sind eine „baufällige Schlachterei“ und eine Krämerei, „unter einer Mauerwölbung“, deren Verkäufer ein buckliger Greis ist und „mit seinen gelben lückenhaften Zähnen Verse aus dem Koran zitiert.“[24] „Das waren meine Beziehungen zur Außenwelt, aber von meiner Innenwelt sind mir nur meine Amme und eine Dirne geblieben.“(S. 53) Die Figuren Hedayats versuchen nicht, sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien; es hat im Gegenteil den Anschein, als würden sie sich in ihr Schicksal ergeben oder hätten sich willkürlich von der Außenwelt abgeschlossen. Die Figuren Hedayats leben zwischen Traum und Wirklichkeit. Sie sehen alle gleich aus, d. h. die Hauptfigur hat verschiedene Doppelgänger, die surrealistisch dargestellt werden. In „Drei Tropfen Blut“ sind der Protagonist, dessen Freund (Siyawasch), sein Nachbar Abbas im Irrenhaus und sogar der Irrenhausdirektor derselbe. Mit anderen Worten, die Hauptfigur hat verschiedene Gesichter. In „Die blinde Eule“ ähnelt die Frau des Ich-Erzählers, die nicht mit ihm schlafen will, während sie es mit anderen, vor allem mit dem buckligen Greis, vor seinen Augen tut, verblüffend seiner Traumfrau, die er die „ätherische Frau“ nennt. Er selbst verwandelt sich am Ende in einen buckligen Greis. Die Begegnung des Ich-Erzählers mit seinem Doppelgänger und anderen phantastischen Figuren wie der „ätherischen Frau“ werden nicht zufällig surrealistisch dargestellt. Hedayat lebte zu einer Zeit (1926-1930), in der der Surrealismus in Frankreich seinen Höhepunkt erreicht hatte[25], während Kafka aus der expressionistischen Generation hervorgegangen war, deren Wirkung auf die Frühdichtung spürbar ist.[26] 4. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Hedayat vor der Niederschrift des Romans „Die blinde Eule“ (1936) Kafka gelesen hat. Obwohl Flower sagt, dass „nicht genau bekannt ist, wann Hedayat sich zum ersten Mal mit Kafka beschäftigt“, behauptet er, „zweifellos hat jedoch die Erzähltechnik von Kafka seinen Stil direkt beeinflusst.“[27] Erstes Zeichen dafür, dass Hedayat sich mit Kafka beschäftigte, ist die Übersetzung von „Vor dem Gesetz“ ins Persische im Jahre 1943, d.h. acht Jahre nach der Niederschrift von „Die blinde Eule. Außerdem haben einige Interpreten nachgewiesen, dass Hedayat beim Schreiben von „Die blinde Eule“ unter dem Einfluss anderer westlicher Autoren wie Edgar Allan Poe, Rainer Maria Rilke und Guy de Maupassant stand.[28] Einer dieser Interpreten hat sogar manche Passagen von Poes „Die schwarze Katze“, Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ und Maupassants „Der Hora“ mit „Die blinde Eule“ wörtlich verglichen. Die verblüffenden Übereinstimmungen, sogar in der Wortwahl, die oft einer Übersetzung ähneln, weisen darauf hin, dass Hedayat beim Schreiben seines Romans die erwähnten Werke bis zu einem gewissen Grade imitierte.[29]
[1] Esmail Jamschidi (Hg.): Khod-koschi-ye Hedayat (Hedayats Selbstmord). Teheran 1994, S. 39. [2] Richard Flower L.G.: Sadegh-e Hedayat 1903- 1951. Eine literarische Analyse. Berlin 1977, S. 61. [3] Jamschidi, S. 42. [4] A.a.O., S. 66 u. 111. [5] , Richard L.G. Flower: Sadegh-e Hedayat 1903-1951. Eine literarische Analyse. Berlin 1977. S. 48. [6] Sadegh Hedayat. zende begur (Lebendig begraben). 6. Aufl., Teheran 1963. [7] Djamschidi: Hedayats Selbstmord, S. 161 ff. [8] Vgl. Mahmood Falaki: „tar-e khiyali-ye Hedayat“ (Illusorische Seite Hedayats). In: Sanjesh, Nr. 4, Hamburg 1999, S. 37-44. [9] Flower, ebd., S. 304. [10] Ebd., S. 303. [11] Ebd., S. 304. [12] Peter Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion. Stuttgart 1990, S. 13. [13] Vgl. Maschalah Adjudani: ya marg ya tadjadod-dar sche’r-o adab-e maschrute (Persische Lyrik und Prosa in der konstitutionellen Revolution). Teheran 2003, S. 118 ff. [14] Wie „Godjaste Abalisch“, „karname-ye Ardeschir-e papakan“ (1939) u. a. [15] Sadegh Hedayat, Maziyar. Teheran 1963. [16]Als Farsane, ein junger Bewunderer Hedayats, ihn mit Kafka vergleicht, sagt Hedayat: „Wie kann ich Kafka ähnlichsein? Er [Kafka] hatte keine finanziellen Schwierigkeiten, er hatte seine Verlobte, er konnte seine Bücher veröffentlichen, wann er wollte. Ich habe im Gegenteil, kein Brot, keine Verlobte, und vor allem keine Leser.“ M. F. Farzane: aschenayi ba Sadegh Hedayat (Bekanntschaft mit Sadegh Hedayat). Teheran 1993, S. 230. [17] Vgl. die Erzählung „Lebendig begraben“. [18] Vgl. den Roman „Die blinde Eule“. [19] Sadegh Hedayat: buf-e kur (Die blinde Eule). Köln [1988], S. 14, 33, 36, 59 u. a. [20] Vgl. Mohammad-Teghi Ghiasi: ta’will-e buf-kur (Interpretation des Romans „Die blinde Eule). Teheran 1998, S. 256. [21] Ich komme darauf noch zu sprechen. [22] Siehe vorliegenden Artikel. [23] Die blinde Eule, S, 50. Zur Übersetzung dieser Passage habe ich die Übersetzung von Bahman Nirumand hinzugezogen. „Die blinde Eule“; Frankfurt a. M. 1997, S. 58. [24] buf-e kur (Die blinde Eule). S. 51-53. Übersetzung von Nirumand, S. 59-61. [25] Vgl. Schweilke, Günther und Irmgard: Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart 1984, S. 406. [26] Siehe vorliegende Artikel. [27] Flower, S. 309. [28] Vgl. Homayun Katuzian: Sadegh Hedeyat – az afsane ta waghe’iyat. Teheran 1993, S. 172 und M. F. Farsane: aschenayi ba Hedayat, S. 395 u. a. [29] Vgl. Schahruz Raschid. „Negahi be buf-e kur“ (Ein Blick auf die blinde Eule). Aftab. Nr. 53. Oslo 2004, S. 6-10 u. 16-25.
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Hedayat und Kafka
Sadegh Hedayat wurde 1903 in der Familie eines hohen Beamten in Teheran geboren.[1] Er erhielt eine aristokratische Erziehung und „die traditionelle iranisch-islamische Bildung.“[2] Durch Besuch der französischen Missionsschule St. Louis in Teheran (1925) lernte er die französische Sprache.[3] 1926 wurde er mit einem Regierungsstipendium als Student nach Belgien geschickt. Nach acht Monaten ging er nach Frankreich, wo er bis 1930 studierte und dann ohne Abschluss nach Iran zurückkehrte.[4] In Frankreich lernte er die europäische Literatur direkt kennen.[5] Nach seiner Rückkehr aus Frankreich erschien sein erster Erzählband, „Zende begur“ (Lebendig begraben), in Teheran (1930). Diese Erzählung ist die Geschichte eines Menschen, der sich durch Opium das Leben zu nehmen versuchte.[6] Diese Erzählung entstand in Frankreich, wo er 1928 zum ersten Mal einen Selbstmordversuch machte, aber gerettet wurde.[7] Die Tendenz zum Tode war Hedayat immer innewohnend, ein Thema, das in manchen seiner Erzählungen wie „se ghatre khun“ (Drei Tropfen Blut)[8] oder in seinem Meisterwerk „Die blinde Eule“ auftritt und in unterschiedlicher Weise seine Werke durchzieht, wobei die vollkommene Vernichtung der Persönlichkeit des Protagonisten beschrieben wird. Diese Tendenz führte dahin, dass er sich schließlich im Jahre 1951 in Paris das Leben nahm.
Dies und sein Hass gegen die Umgebung, besonders gegen „Radjale“ (Pöbel), der ihn in die Einsamkeit führt, und seine pessimistische Grundstimmung veranlassen manche Interpreten dazu, nach parallelen Merkmale in Hedayats und Franz Kafkas Werken zu suchen. Z. B. Richard Flower schreibt: „Die Personen seiner Werke sind oft einsame und verfolgte Seelen wie jene von Kafka.[9] […]In vielen Bemerkungen sind parallele Elemente der Technik und der Problematik beider Autoren zu erkennen.“[10] Flower meint, eine Ähnlichkeit sogar in der Sprache der beiden Autoren zu erkennen:
„Hedayats Persisch hat gewiss die subtile Einfachheit von Kafkas Deutsch und ist vortrefflich geeignet, die gleiche Situation eines Menschen ‚inmitten der Schöpfung’ darzustellen.“[11] Aber aus verschiedenen Gründen ist Flowers Exegese nicht zuzustimmen:
1. Hedayat ist in einem Land und in einer Epoche aufgewachsen, in der nur ein Hauch von Modernität, wie ihn der Anfang der Industrialisierung mit sich bringt, die Gesellschaft an der Oberfläche erreichte. In Hedayats Zeit ist Persien ein Land, das von den Errungenschaften der Modernität, nämlich Säkularisierung und Freiheit des Denkens und des Wortes meilenweit entfernt ist. Unter diesen Bedingungen ist es kaum vorstellbar, dass ein iranischer „Intellektueller“ die Modernität wie ein europäischer Intellektueller wahrnehmen oder verinnerlichen kann. Kafka jedoch lebte in einer Zeit, wo nicht nur nach Jahrhunderten „an die Stelle Gottes als Rechtfertigungsinstanz und letzte Referenz diskursiver Ableitungen das Subjekt tritt“[12], sondern die Durchsetzung der Kernidee des Modernisierungsprozesses, nämlich die Befreiung des Individuums, in Frage gestellt wird, was in Kafkas Werken von großem Gewicht ist und die Einsamkeit seiner Figuren deutet.
Iran steht in jener Zeit am Anfang der Säkularisierung der Gesellschaft. Obwohl viele der iranischen Aufklärer die westlichen Modelle für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme in ihrem Land hielten, bleiben die Widersprüche in der Weltanschauung zu klären. Im Konflikt zwischen Religion und Verweltlichung konnten sie sich nicht für die Säkularisierung entscheiden. Sie wollten nur die Industrialisierung und die Rechtsordnung des Westens übernehmen, ohne zu erkennen, dass beides untrennbar von der Säkularisierung ist.[13] Diese Tendenz wurde besonders durch die neokolonialistische Politik verstärkt, welche Hass und Verweigerung westlicher Gedanken hervorrief.
Obwohl Hedayat durch seinen vierjährigen Aufenthalt in Frankreich und durch seine eigenen Studien die Modernität erfährt, lebte er aber trotzdem in einem Schwebezustand zwischen Modernität und Tradition. Er ist, wie es der Geist der Zeit verlangte, auch ein Nationalist. Daher unternimmt er 1936 eine Reise nach Indien, um Mittelpersich zu lernen. Er übersetzte danach einige Texte aus dem Mittelpersischen ins Neupersische und schrieb Bücher über vorislamische persische Kultur und Geschichte[14], welches seine Vorliebe für die persische Kultur kennzeichnet. Dies wird besonders in seinem Theaterstück „Maziyar“ (1933), der Geschichte eines iranischen Nationalmärtyrers im Unabhängigkeitskampf gegen die arabischen Eroberer im achten Jahrhundert
spürbar. Dort stellt Hedayat seinen Hass auf die Araber dar, die das persische Reich im siebten Jahrhundert zum Einsturz gebracht und das Land islamisiert hatten.[15] Sein Hass ist auch gegen den Islam gerichtet. Dies kommt besonders in seinem romanhaft geschriebenen Buch „Tup-e Morwarid“ (Die Perlenkanone – 1947) zum Ausdruck. Dort macht er den Islam regelrecht lächerlich. Dieses Buch durfte nie offiziell erscheinen, es wurde und wird auch heute als Untergrundliteratur geheim gelesen. Diese Werke zusammen mit „afsane-ye afarinesch“ (Die Fabel von der Schöpfung – 1946), worin er die Erschaffung der Welt durch einen Gott als eine Fabel ironisch darstellt, zeigen zum einen sein atheistisches Gesicht, zum anderen tragen sie chauvinistische Züge. Er war aber andererseits ein Einzelgänger, der jeglicher Despotie, der Unterentwicklung der Gesellschaft, der Heuchelei der Geistlichen u. a. mit Sozialkritik entgegentrat. Er stand für die Modernisierung des Landes.
Also wenn man die sozial-politische Lage in Kafkas Zeit und seine Konflikte mit denen Hedayats und seiner Zeit vergleicht, zeigt sich, dass manche scheinbaren Ähnlichkeiten aus jeweils anderem Hintergrund entstanden sind.
Ein Beispiel dafür ist ihre Einsamkeit und Entfremdung von der Umwelt. Bei Kafka, wie ich in vorliegender Arbeit erörtert habe, ist die Einsamkeit aus dem Verfall des Individuums zu verstehen, wobei er sein Eigen, sein freies Selbst sucht. Hedayats Einsamkeit ist durch die Enttäuschung über seine Landsleute und seine dichterische Arbeit, die „keine Leser hat“,[16] zu begreifen.
Während Kafka nach seinem eigenen Ich suchte, bzw. sein Selbst frei wünschte, versuchte Hedayat sein Ich zu vernichten[17] oder es zu erniedrigen[18]; weil er keinen Individuationsprozess, wie ein moderner Europäer erlebt hatte, und deshalb keine individuelle Existenz besaß.
2. Was Flower als die gleiche „subtile Einfachheit“ in beider Sprachen (Hedayats Persisch und Kafkas Deutsch) entdeckt, zeigt nur die Unaufmerksamkeit Flowers, da er die Entwicklung der modernen persischen Literatur und ihrer Sprache außer Acht lässt. Wie im vorstehenden erklärt worden ist, sollte man die „Einfachheit“ in Hedayats Werken in Verbindung mit dem Versuch seiner Vorgeneration auffassen, die Literatursprache zu vereinfachen. Sprachliche und stilistische Parallelitäten gibt es in den Werken Hedayats und seiner Vorgeneration wie Dehkhada und dem Begründer der modernen persischen Erzählung, Djamalzade. Diese Parallelitäten sind nicht nur in der „Einfachheit“ der Sprache, sondern auch in der Satzkonstruktion und Textgestaltung vorhanden. Er hat nur ihren Stil weiterentwickelt.
Außerdem ist Hedayats Sprache nicht so „subtil“ wie Kafkas. Es gibt grammatische Fehler in seinen Werken, sogar in seinem Meisterwerk „Die blinde Eule“[19], welche manche Interpreten als Einfluss des Französischen auf Hedayat bezeichnen[20]; weil er europäische Literatur auf Französisch las und ins Persische übersetzte. Auch Kafkas Werke hatte er in französischer Übersetzung gelesen und einige von ihnen ins Persische übersetzt.[21] Er konnte also auch von daher nicht unter dem Einfluss von Kafkas Sprache stehen.
3. Wenn man die Erzählstruktur und die Entwicklung der Handlung und die Rahmenkonstruktion der Werke Kafkas mit Hedayats Werken vergleicht, findet man relevante Unterschiede.
Kafkas Werke sind von unendlicher Wanderung der Figuren geprägt, wodurch die Handlung der Geschichte entwickelt wird.[22]Die Figuren werden unwillentlich wie Josef K. oder willentlich wie K. auf eine labyrinthische Irrfahrt geführt. Aber sie versuchen sich aus dem Labyrinth zu befreien. Josef K. versucht seine „Unschuld“ zu beweisen, K. versucht das Schloss zu erreichen, Gregor Samsa versucht sich von der Tiergestalt zu befreien und mit den anderen eine menschliche Beziehung einzugehen usw. Die Rahmenkonstruktion in Kafkas Werken wird durch diese Befreiungsversuche aufgebaut, wodurch die Handlung der Geschichten ihre Tragik erhält.
Hedayats wichtige Geschichten, die oft mit Kafkas Werken parallelisiert werden, geschehen im Gegenteil in einem geschlossenen Raum, was sich aus seinem Leben unter einem totalitären System erklärt. Die Figuren handeln wie Gefangene, die eher in sich selbst gefangen sind. In der Erzählung „Lebendig begraben“ ist die ganze Welt der Hauptfigur ein Zimmer, in dem sie sich das Leben zu nehmen versucht. In „Drei Tropfen Blut“ ist der Protagonist (Mirza–Ahmad Khan) in einem Irrenhaus gefangen. Der Ich-Erzähler des Romans „Die blinde Eule“ wohnt in einem Zimmer, das „über den Ruinen“ errichtet wurde und dessen Wände sind „wie die Mauern eines Grabmals.“[23] Seine Außenwelt sind eine „baufällige Schlachterei“ und eine Krämerei, „unter einer Mauerwölbung“, deren Verkäufer ein buckliger Greis ist und „mit seinen gelben lückenhaften Zähnen Verse aus dem Koran zitiert.“[24]
„Das waren meine Beziehungen zur Außenwelt, aber von meiner Innenwelt sind mir nur meine Amme und eine Dirne geblieben.“(S. 53)
Die Figuren Hedayats versuchen nicht, sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien; im Gegenteil, es scheint, dass sie sich in ihr Schicksal ergeben haben, oder sich willkürlich von der Außenwelt abgeschlossen haben. Die Figuren Hedayats leben zwischen Traum und Wirklichkeit. Sie sehen alle gleich aus, d. h. die Hauptfigur hat verschiedene Doppelgänger, die surrealistisch dargestellt werden. In „Drei Tropfen Blut“ sind der Protagonist, dessen Freund (Siyawasch), sein Nachbar Abbas im Irrenhaus und sogar der Irrenhausdirektor gleich. Mit anderen Worten, die Hauptfigur hat verschiedene Gesichter. In „Die blinde Eule“ ist des Ich-Erzählers Frau, die mit ihm nicht schlafen will, während sie mit den anderen, vor allem mit dem buckligen Greis vor seinen Augen schläft, verblüffend ähnlich seiner Traumfrau, die er „ätherische Frau“ nennt. Er selbst verwandelt sich am Ende in einen buckligen Greis. Die Begegnung des Ich-Erzählers mit seinem Doppelgänger und anderen phantastischen Figuren wie die „ätherische Frau“ werden nicht zufällig surrealistisch dargestellt. Hedayat lebte zu einer Zeit (1926-1930) in Frankreich, in der der Surrealismus in Frankreich seinen Höhepunkt erreicht hatte[25], während Kafka aus der expressionistischen Generation hervorgegangen war, deren Wirkung auf die Frühdichtung spürbar ist.[26]
4. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Hedayat vor der Niederschrift des Romans „Die blinde Eule“ (1936) Kafka gelesen hat. Obwohl Flower äußert, dass es „nicht genau bekannt ist, wann Hedayat sich mit Kafka zum ersten mal beschäftigt“, behauptet er aber, „zweifellos hat jedoch die Erzähltechnik von Kafka seinen Stil direkt beeinflusst.“[27] Erstes Zeichen dafür, dass er sich mit Kafka beschäftigt hat, ist die Übersetzung von „Vor dem Gesetz“ ins Persische im Jahre 1943, d.h. acht Jahre nach der Niederschrift von „Die blinde Eule.
Außerdem haben einige Interpreten nachgewiesen, dass Hedayat beim Schreiben von „Die blinde Eule“ unter dem Einfluss anderer westlicher Autoren wie Edgar Allan Poe, Rainer Maria Rilke, Guy de Maupassant u. a. stand.[28] Einer dieser Interpreten hat sogar manche Passsagen von „Die schwarze Katze“ von Poe, „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rilke und „Der Hora“ von Maupassant mit „Die blinde Eule“ wörtlich verglichen. Die verblüffenden Ähnlichkeiten, sogar der Wortwahl, die oft einer Übersetzung ähnelt, weisen darauf hin, dass Hedayat beim Schreiben seines Romans die erwähnten Werke bis zu einem gewissen Grade imitierte.[29]
[1] Esmail Djamschidi (Hg.): Khod-koschi-ye (Hedayats Selbstmord). Teheran 1994, S. 39
[2] Richard Flower L.G.: Sadegh-e Hedayat 1903- 1951. Eine literarische Analyse. Berlin 1977, S. 61
[3] Jamschidi, S. 42
[4] a.a.O., S. 66 u. 111
[5] Flower, S. 48
[6] Sadegh Hedayat. zende begur (Lebendig begraben). 6. Aufl., Teheran 1963
[7] Djamschidi: Hedayats Selbstmord, S. 161 ff
[8] vgl. Mahmood Falaki: „tar-e khiyali-ye Hedayat“ (Illusorische Seite Hedayats). In: Sanjesh, Nr. 4, Hamburg 1999, S. 37-44
[9] Flower, S. 304
[10] a.a.O., S. 303
[11] ebd., S. 304
[12] Peter Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion. Stuttgart 1990, S. 13
[13] Vgl. Maschalah Adjudani: ya marg ya tadjadod-dar sche’r-o adab-e maschrute (Persische Lyrik und Prosa in der konstitutionellen Revolution). Teheran 2003, S. 118 ff
[14] Wie „Godjaste Abalisch“, „karname-ye Ardeschir-e papakan“ (1939) u. a.
[15] Sadegh Hedayat: Maziyar. Teheran 1963
[16] Als Farsane, ein junger Bewunderer Hedayats, ihn mit Kafka vergleicht, sagt Hedayat: „Wie kann ich ähnlich wie Kafka sein? Er [Kafka] hatte keine finanziellen Schwierigkeiten, er hatte seine Verlobte, er konnte seine Bücher veröffentlichen lassen, wenn er wollte. Ich, im Gegenteil, habe kein Brot, keine Verlobte, und vor allem keine Leser.“ M. F. Farzane: aschenayi ba Sadegh Hedayat (Bekanntschaft mit Sadegh Hedayat). Theran 1933, S. 230
[17] Vgl. die Erzählung „Lebendig begraben“
[18] Vgl. den Roman „Die blinde Eule“
[19] Sadegh Hedayat: buf-e kur (Die blinde Eule). Köln [1988], S. 14, 33, 36, 59 u. a.
[20] Vgl. Mohammad-Teghi Ghiasi: ta’will-e buf-kur (Interpretation des Romans „Die blinde Eule). Teheran 1998, S. 256
[21] Ich komme darauf noch zu sprechen
[22] Siehe diese Arbeit
[23] buf-e kur (Die blinde Eule), S, 50. Bei Übersetzung dieser Stelle habe ich die Übersetzung von Bahman Nirumand hinzugezogen. „Die blinde Eule“; Frankfurt a.M. 1997, S. 58
[24] buf-e kur (Die blinde Eule). S. 51-53. Übersetzung von Nirumand, S. 59-61
[25] vgl. Schweilke, Günther und Irmgard: Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart 1984, S. 406
[26] Siehe diese Arbeit
[27] Flower, S. 309
[28] Vgl. Homayun Katuzian: Sadegh Hedeyat – az afsane ta waghe’iyat. Teheran 1993, S. 172 und M. F. Farsane: aschenayi ba Hedayat, S. 395 u. a.
[29] Vgl. Schahruz Raschid. „Negahi be buf-e kur“ (Ein Überblick auf die blinde Eule). Aftab. Nr. 53. Oslo2004, S. 6-10 u. 16-25)